Ein persönlicher Nachruf zum Tod von Gräfin Rosy von Westerholt
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- Geschrieben von Buchautor Christoph Cöln
(Herten/Krefeld, 07. Oktober 2021) „Nennen sie mich bloß nicht Gräfin,“ sagte Rosy von Westerholt an dem Tag, als wir uns zur Recherche für mein Buch ,Reife Leistung‘ kennenlernten. Sie hatte gerade keinen guten Tag. Mit über 80 nahm sie an den Deutschen Senioren-Meisterschaften in Leinefelde-Worbis teil, und es lief einfach nicht. Rosy, die auf ihren Adelstitel keinerlei Wert legte, rief während des Wettkampfs sehr oft: „Scheiße“. Ihre Würfe waren schlecht. Die Schulter. Sie hatte Schmerzen. Aber sie warf trotzdem.
Nach dem Wettkampf sprach ich sie an, sagte, dass ich über sie schreiben wolle. Sie schaute skeptisch. „Aha.“ Das war alles. An Publicity schien sie nicht interessiert zu sein. Am Erzählen schon. Es dauerte nicht lange, da hatte sie mir von ihren Reisen in alle Welt berichtet. Von ihren früheren Leben. Sie glaubte an Wiedergeburt. Wie sie einmal als Arzt in China die Verwundeten des Opiumkrieges heilte. Oder als Missionar durch Japan streifte. Ihre Inkarnationen waren oft männlich, aber mit den Männern klappte es nicht so. „Die meisten Männer sind irgendwann genervt, wenn die merken, dass ich mache, was ich will.“ Und weil sie stets machte, was sie wollte, hielten die Männer nie lange. Sie liebte die Freiheit mehr.
Für eine Fernostreise den Citroen 2CV verkauft
Rosy war Feministin. Anfangen konnte sie mit dem Begriff nicht viel. Sie tat einfach, was ihr Lust bereitete. Mit Anfang zwanzig haute sie, die Gräfin aus dem Geschlecht der von Westerholts, einfach ab. Sie verkaufte ihren Citroen 2CV, schiffte sich in Marseille auf einem Handels-Dampfer ein und fuhr aufs Geratewohl Richtung Fernost. Raus aus der adeligen Enge, weg von der Familie. „Ich brauchte das, um mich zu finden. Reisen war meine Therapie“.
Auf den Philippinen blieb sie hängen, arbeitete auf einer Kokosnussplantage, half bei einem Marmorschleifer, trainierte mit dem philippinischen Basketballteam der Frauen. Rosy war vernarrt in den Sport. Tennis, Basketball, Volleyball, Golf. „Hauptsache, was mit Bällen“. Schon als Kind auf Schloss Westerholt, zwischen Stallknechten und den Ritterrüstungen ihrer Vorfahren, schlug sie stundenlang Bälle. „Die hab’ ich auch schon mal über das nächste Haus drübergekloppt.“ Später wollte sie ihrem ehrgeizigen Vater beweisen, dass sie es auch als Leichtathletin konnte. Zuerst im Weitsprung. Dann beim Kugelstoßen und Speerwurf. Im polnischen Torun wurde sie im März 2019, wenige Tage nach ihrem 80. Geburtstag, noch Weltmeisterin in ihrer Altersklasse. Bei der Siegerehrung summte sie die Nationalhymne. „Obwohl die mir ja eigentlich egal ist.“
Als Weltenbummlerin bereiste sie mehr als 130 Länder
Als ich sie das letzte Mal sah, vor einem Jahr, hatte Rosy bereits mehr als 130 Länder besucht. Viele auf eigene Faust. Als Frau. Schon in den 60ern zog sie los, trampte alleine nach Marokko, schlief am Straßenrand, wenn es sein musste, vagabundierte wochenlang durch Indien oder stapfte mit staunenden Kerlen durch den Urwald. Angst hatte sie nicht. „Ein paar Mal war's mir schon ein bisschen mulmig. Aber das geht vorbei."
In ihrer Wohnung lagen die Reiseführer und Reisemagazine kreuz und quer. An der Wand hatte sie eine Weltkarte, darauf waren alle Länder markiert, in denen sie schon war. Viel war da nicht mehr frei. „Ich schaff' die alle noch“, sagte sie. Sie „juckelte" unentwegt durch die Weltgeschichte, wie sie das nannte. Kam sie von einem Trip zurück, stand bald schon der nächste an und ein weiterer war meist in Planung.
Nun trat sie ihre ultimativ letzte Reise ohne Rückkehr an
Vor ein paar Wochen schickte sie mir ein verwackeltes Bild mit ihrem Handy. Auf dem Bild war ein Schiff zu sehen, ein Mann mit imposantem Bart am Steuerrad und im Hintergrund irgendeine Insel. „Bin gerade auf einem Segelschiff“, schrieb sie. „Mit dem Captain. Wann sehen wir uns mal wieder?“ Vorhin erfuhr ich, dass Rosy die Weltkarte nicht mehr voll bekommen wird. Rosy ist tot.
An dem Tag auf dem Sportfest, als sie schlecht warf und wir uns kennenlernten, gab sie mir folgenden Rat: „Ich mache nicht jeden Mist mit. Und wenn etwas scheiße ist, dann sage ich das auch. Ich mein’, das muss doch dann raus, oder nicht?“ Ich denke, Rosy hat recht. Die Dinge müssen raus. Und dass sie jetzt weg ist, finde ich verdammt scheiße.
Mach's gut, Rosy!
In Gedenken an Rosy von Westerholt (20. Februar 1939 – 20. September 2021), im obigen Bild festgehalten von Fotograf Miguel Brusch.